Herz.Kranz.Gefäss
Erzählung, 2021, orte Verlag, Schwellbrunn
Abschiednehmen in Coronazeiten. Ein Tochterbuch. (Pressetext)
«Sie hatte geglaubt, ganz einfach über ihre Mutter schreiben zu können. Ohne grössere Hindernisse, mit Herz und Verstand.» Luise ist daran, von ihrer Mutter für immer Abschied zu nehmen. Über dieses letzte grosse Geschehen möchte sie – selbst Mutter, Grossmutter, Schwester, Freundin und Geliebte – schreiben: über Besuche im Altersheim, Telefongespräche, über Erinnerungen an die Mutter ihrer Kindheit. Doch schon bald drängt sich ein unerwartetes äusseres Geschehen in die Aufzeichnungen ein: Die Covid19-Pandemie. Alle Versuche, diese Störung aussen vorzuhalten, scheitern. Zu mächtig sind die Einflüsse des Corona-Geschehens auf Luises Denken, Fühlen und Handeln. Insbesondere der Ruf nach Abstand, nach «Social Distancing» konturiert ihr Nachdenken über die eigene Körperlichkeit, über Wunsch und Wirklichkeit in der Beziehung zur Mutter. «Vergehe ich, wenn mein Ursprung erlischt?» fragt sich Luise. Im Prozess einer starken Trauer findet sie Antwort auf die Frage, was sie mit ihrer Mutter verbindet und was von dieser intimsten Beziehung des Lebens überdauern soll.
Feinfühlig und akzentuiert lässt Christine Fischer die Leserinnen und Leser an Luises Erforschung des Kerns ihrer Beziehung zur Mutter teilhaben.
Abschied in Zeiten des Abstandhaltens
St. Galler Tagblatt, Ostschweizer Kultur, 14. Sept. 2021 / Bettina Kugler
Sehnsucht nach Nähe, Bedürfnis nach Distanz
«Sie hatte geglaubt, ganz einfach über ihre Mutter schreiben zu können», so beginnt die Tochtergeschichte. (…) Sie lässt darin eine bald siebzigjährige Frau namens Luise, wach, sinnlich und aktiv im Leben stehend, «sogenannte letzte Dinge» festhalten, ihr Verhältnis zur hochbetagten Mutter aufzeichnen. (…)
Begonnen hat Christine Fischer mit dem Manuskript im Januar 2020, als kaum einer hierzulande ahnte, dass «die Welle des Unheils» so schnell westwärts schwappen und das Leben so stark verändern würde. Aus Luises Mutterbuch wird eine persönlich gefärbte Coronachronik, in der alle Ambivalenzen des globalen Ausnahmezustandes aufscheinen. Die Frage, wie wir leben wollen und sterben dürfen, schwingt immer mit. Die Erfahrung des Lockdowns intensivierte das Nachdenken über letzte und wesentliche Dinge, intensivierte auch die Wahrnehmung von Empfindungen, Körper- und Seelenzuständen. (…)
In der Natur findet Christine Fischer starke und sinnliche Bilder – für innere wie äussere Prozesse. Wie ihre Figur Luise ging sie täglich im Wald spazieren und machte schon unterwegs Notizen. «Wenn wir heute über den ersten Lockdown sprechen, ist das bereits mit Nostalgie befrachtet. Alles war so einfach, die Menschen waren nett zueinander. Das erscheint uns jetzt schon sehr fern.» Dass sie die Vergangenheitsform wählt, rückt die Erfahrungen weiter fort, als sie sind, lässt sie schillern zwischen Märchen und Dystopie.
Kommt hinzu, dass ihr das Fragmentierte, die «Flashes» näher am Leben erscheinen. Im Bewusstsein wirbeln die Dinge durcheinander, redet der Körper dazwischen, sind die Zeitebenen geschichtet. Wie die Figur Luise hat Christine Fischer komponiert und arrangiert, manches bewusst ausgespart. Das sei auch eine Frage der Lebensjahre, auf die man zurückblicke: «Als ältere Frau habe ich vieles verarbeitet und bin damit versöhnt. Es muss nicht mehr alles so bluten.»
«Fiktives interessiert mich inzwischen immer weniger, sagt sie, «stattdessen eher, was das Leben macht, Wie Menschen davon erzählen, sich dabei weiterentwickeln, noch bis zum Ende.» Doch ihr Buch predigt nicht: Es liebkost das Leben, indem es sich nah heranwagt an das Sterben.
Im Mutter-Lockdown Kulturmagazin SAITEN, 09/21 , von Peter Surber
«Abstand» ist das Stichwort gleich in den ersten paar Sätzen. Die Tochter versetzt sich bewusst in die dritte Person, legt sich einen Erzähl-Namen zu: Luise. Das Mutterbuch, das sie schreiben will, soll sie nicht noch einmal in den Mutterschoss zurückbringen.
Fast 200 Seiten später besucht Luise mit ihrer Schwester Veronika die Mutter, die inzwischen im Altersheim im Sterben liegt und sich aus dem Bezug zu den Töchtern fast ganz zurückgezogen hat. Und Veronika stellt fest: «Ging es in unserer Familie nicht von allem Anfang an um Abstand? Litten wir nicht schon immer unter diesem Virus?»
Christine Fischers neue Erzählung ist durch und durch ein Kind der Pandemie. Die Autorin findet immer neue bildhafte Umschreibungen des «Ereignisses», des «Geschehens», des «Ausnahmezustandes». (…) Luise lehnt sich auf. Sie protestiert gegen «die Mauer», die das Virus aufbaut, klagt gegenüber ihrem Freund Helmut über die «hirnrissige Welt», in der Nähe schädlich und Distanz plötzlich heilbringend sein soll. (…)
Und in einer Art Parallelbewegung ringt die Tochter, selber schon im Pensionsalter, um die Loslösung von ihrer Mutter. Merkt, wie schwer die Vorstellung für sie ist, bald ohne Mutter zu sein, und wie unvorstellbar es wäre, sie gerade in dieser Corona-Zeit der «Vereinzelung» zu verlieren. Luise kämpft um ihre Mutter, rebelliert mit ihren Geschwistern gegen das Besuchsverbot, sieht sie endlich wieder – und muss damit zurechtkommen, dass die Mutter inzwischen ihre Töchter kaum noch braucht und sich «die Macht herausgenommen hat, insgeheim eine andere zu werden».
Je näher der Tod der Mutter, desto schmerzlicher erkennt die Tochter ihre Ähnlichkeit mit ihr und die eigene lebenslange Unfähigkeit, wirkliche Nähe zu leben. Es ist eine höchst anspruchsvolle, so subtile wie abgründige Mutter-Tochter-Beziehung, die Christine Fischer in den zwei Figuren entwirft.