Lebzeiten

Roman, 2015, Appenzeller Verlag, Schwellbrunn

Solange auf Wörter noch Verlass ist

St. Galler Tagblatt, 19. Juni 2015, von Martin Preisser

Christine Fischer hat mit «Lebzeiten» einen berührenden Roman über eine beginnende Demenzerkrankung geschrieben. Das Buch hinterlässt tiefen Eindruck, weil es trotz des Krankheitsverlaufs viel Warmherziges transportiert und das Leben im Dennoch feiert.

«Kopfgeschehen», diesen Begriff findet Christine Fischer für die Krankheit Demenz, deren Beginn und Fortschreitung sie in der überraschenden Ich-Formbeschreibt. Bedrückend nah kommt die St.Galler Autorin dem Lebensgefühl von Lore, die noch vor ihrer Pensionierung mit diesem Schicksal konfrontiert wird. Vier Hefte schreibt die Kindergärtnerin Lore voll, das blaue,das rote, das gelbe und zuletzt das weisse. Keine Klage oder Anklage,sondern ein Brief an das Leben sollen diese Aufzeichnungen sein.

Christine Fischer findet für die Gefühlszustände einprägsame Bilder. Und trotz der Unerbittlichkeit der Diagnose atmet das Buch viel Wärme, ja Warmherzigkeit. Das nimmt
dem Schrecken dieser Krankheit den Stachel, alles wirkt eingehüllt und weich eingepackt.

 Bei aller Verzweiflung, die in «Lebzeiten» aber nie vordergründig artikuliert wird,liegt mit dem Demenzgeschehen für Lore auch ein «unbekannter Kontinent» vor ihr. Andiesen unbekannten Kontinent tastet sich Christine Fischer mit schönen, oft auch offenen Bildern heran. «Mein Verstand wird geschält werden wie eine Zwiebel, Haut für Haut», konstatiert die Romanheldin und fragt sich, ob sie sich ins Unbekannte hineindenken könne. Genau das tut Christine Fischer in einer weichen, runden Sprache.Sie wagt sich an die Fragen, welches Leben hinter der Demenz und was hinter dem Leben überhaupt stehen könnte.
Immer wieder keimt auch Hoffnung auf, dass das Leben mit derKrankheit «bloss ein neues Tor und dahinter wieder ein neues» öffnen könne. «Mit dem Leben mitzugehen» wird da als höchstes Gut beschrieben. Mitgehen, tragen, ertragen statt resignieren. Auch wenn das Selbstverständliche immer mehr zerbricht, sich immer mehr auflöst.

Die hoffnungsvollsten Sätze gelingen ChristineFischer, wenn sie von dem erzählt, was sie am besten kann, eben schreiben und erzählen. Schreiben sei Selbstvergewisserung, auch wenn von der Romanheldin «die Worte immer mehr erjagt, manchmal auch erdauert werden wollen». Im Schreiben, in diesem Briefschreiben an das Leben findet die von Demenz Bedrohte immer wieder Inseln von Sicherheit. «Mit dem Erzählen nähren wir das Leben», schreibt die Autorin, und das heisst in diesem Buch auch das Leben in Demenz. Dieses berührend feinsinnige Buch mit deutlichem St.Galler Lokalkolorit ist eine Liebeserklärung an das Leben. Es endet überraschend. Mit einer Versöhnung und einer stillen Begegnung mit dem Tod.

 

Wenn der Kopf wegdriftet

Ostschweizer Kulturmagazin SAITEN, April 2015, von Peter Surber

Es ist ein grosses, auch ein riskantes Unterfangen, in Sprache den Verlust der Sprache, im Schreiben die Erosion des Denkens und Wissens und Erinnerns einzufangen. Christine Fischer gelingt es, dies glaubwürdig zu tun. In ihrem Buch steckt viel Wissen und Ahnung vom Werden und Vergehen und von der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, Körper wie Geist. Und dennoch wird daraus kein deprimierendes, sondern ein berührendes und manchmal sogar lebenseuphorisches Buch. LEBZEITEN  ist nicht zuletzt der Liebesroman einer Beziehung, die dem „ozeanischen“ Auseinanderdriften zweier Leben standhält und daran wächst. Das könnte eine Botschaft dieses Romans sein: „Ich glaube, das Wichtigste ist mitzugehen. Mit dem Leben mitzugehen.“


Zwiesprache mit dem Leben

NZZ vom 12.05.2015, von Béatrice Eichmann-Leutenegger

Trotz dem bedrückenden Thema steckt dieses Buch voller Lebensfreude. "Lebzeiten" zeugt von einem sorgsamen und poetischen Umgang mit der Sprache, diesem Lebens-Mittel, das den Tod des Ichs aufhält.