Els

Erzählung, 2012, Appenzeller Verlag, Herisau

Spät im Jahr hält der Frühling Einzug auf Hukejaure in den Fjells von Schwedisch-Lappland. Auch Els, eine eigenwillige alte Frau, steigt nach Hukejaure auf, um wie jedes Jahr als Hüttenwartin die spärlichen Gäste zu beherbergen. Aber dieses Mal ist nichts wie sonst: Die Rentiere bleiben aus, stattdessen melden sich körperliche Schmerzen, Verwirrung und eine unbestimmte Furcht.

Anne, eine junge Trekkerin, taucht auf und sorgt für weitere Verunsicherung. Später sieht sich die Hüttenwartin – inzwischen krank geworden – von einem heimlichen Mitbewohner in ihrer Existenz bedroht. Doch was als vermeintlicher Überlebenskampf beginnt, entwickelt sich für Els immer mehr zu einer Annäherung an Jona, den Fremden. Nicht nur in der harschen arktischen Landschaft meldet sich der Mittsommer mit Macht, auch in Els brechen sich neue Lebenskräfte Bahn.

Christine Fischer beschreibt eindrückliche nordische Landschaften und Menschen, die unerschrocken auf der Suche sind. Sie lässt die Leserinnen und Leser intensiv an deren Innenleben teilhaben.

  

Zitat

«Als Els aus der Hütte trat, stand Anne ein Stück entfernt am oberen Rand des Pfades und schaute über den See Richtung Norwegen. In der bereits tiefer stehenden Abendsonne leuchteten die Wasser- und Eisflächen in einem satten Gold. Es war vollkommen windstill. Im See träumte sich eine rätselhafte zweite Hukejaurewelt in eine Tiefe, die zugleich eine Höhe war. Es gab nichts, das dem Menschen gehört hätte. Der Ruf des Regenpfeifers tönte klagend aus den nahen Moortümpeln. Hej, ich bin Els, deine Hüttenwartin, willkommen auf Hukejaure, rief Els, halblaut nur. Die Gestalt in der roten Regenjacke und der giftgrünen Wollmütze zuckte zusammen und drehte sich blitzschnell um.»

 

NZZ, 1. Dezember 2012

Abgeschiedenheit

«Els» - Christine Fischers Erzählung über eine aussergewöhnliche Begegnung in Lappland

Beatrice Eichmann-Leutenegger · Gäbe es die Kategorie «entschleunigte Literatur», so wäre Christine Fischers neue Erzählung «Els» ein Paradebeispiel. Die Autorin, welche schon in ihren früheren Werken mit Texten von minimalen Bewegungen aufgefallen ist und alle Aktionen im Mikrobereich angesiedelt hat, riskiert hier erneut ein Schreiben, das jenseits der Effekthascherei und attraktiver Handlungsmuster liegt. Wer sich trotzdem darauf einlässt, sieht sich belohnt, denn die konzentrierte Kargheit birgt eine ungeahnte Fülle.

Natürlich ruft bereits die geografische Region, die hier ins Blickfeld rückt, nach einer bedachtsameren Erzählhaltung. Es ist das Hochfjell von Schwedisch-Lappland, eine Urlandschaft, «in der sich Wasser und Land noch nicht gänzlich geschieden haben». Jeder, der sich in diese Zone am Rand der bevölkerten Welt wagt, setzt sich den scharfen Winden, ungewöhnlichen Temperaturen und einer weissen Sonne aus. So scheint denn auch kaum ein lebendiges Wesen unterwegs zu sein, und doch ist die Hüttenwartin auf Hukejaure erneut ins Gebirge gestiegen, um während zehn Sommerwochen ihr Amt als Gastgeberin wahrzunehmen: die dreiundsiebzigjährige Els. Christine Fischer stellt sie als kantige, eigenwillige Frau vor, die mit List und Disziplin die Widrigkeiten übersteht und niemals nach aussen ihr sensibleres Innenleben preisgibt.

In diesem Frühsommer spürt Els jedoch mehr als sonst die Beschwerden des Alters, so dass sie Gedanken an Abschiede hegt. Ohnehin lassen die einsamen Tage mit ihren eingespielten Ritualen viel Raum für Überlegungen zu: zum Leben und zum Glück, zur Heimat, zur menschlichen Nähe oder gar zur Liebe. Manchmal flicht Christine Fischer in den Text kleine kursiv gesetzte Dialoge ein, welche diese Reflexionen verdichten. Deren Sprecher indessen belässt sie in der Anonymität. Nur bisweilen möchte man in den Gesprächsteilnehmern die alte und die ganz junge Els, das Mädchen Elsbeth, vermuten.

So liest und liest man und denkt, dass alle Handlungen, die ein Geschehen vorantreiben, hier völlig ausbleiben werden. Man staunt in die Landschaft des Nordens hinein, die hier schön und abweisend zugleich ersteht und in der Els, die Schauende, blättert wie in einem Buch. Doch dann, weit jenseits der Mitte, passiert plötzlich etwas: Ein Fremder taucht auf und verschwindet auch gleich wieder wie ein Spuk. Der Eindringling aber, der Els vorerst fremd in der eigenen Hütte werden lässt, so dass sie, von Furcht gejagt, flieht, wird ihr später unmerklich ans Herz wachsen.

Jona heisst er, der junge Schreiner, der wegen einer tätlichen Auseinandersetzung von der Polizei gesucht wird und dieser zu entkommen versucht. Er steht Els, unbeholfen zwar, in ihrer Krankheit bei, die sie sich in der Kälte zugezogen hat. Sie dagegen rät ihm unverblümt, was er zu tun hat. Während der Fieberschübe aber glaubt sich Els gleichsam zu «enthärten», wie sie sich eingesteht. Als sie die Augen aufschlägt und Jona an ihrem Bett sitzen sieht, scheint ihr «ein warmer Strom» entgegenzufliessen. Sie, die Entwöhnte, erschrickt erst über eine solche Nähe, doch was sich zwischen ihr und dem jungen Mann entspinnt, ist von raubeiniger Zartheit und daher von unbestrittener Glaubwürdigkeit.

Das schwerverletzte Rentierkalb, das Jona findet und das er Els unbedingt zeigen will, stiftet zudem eine fast wortlose Gemeinschaft zwischen dem jungen Mann und der alten Frau. Beinahe ist man versucht, das wenige Tage alte Tier als Zeichen einer neuen seelischen Befindlichkeit bzw. Verletzlichkeit der Hauptpersonen zu deuten. Aber man verbannt solche Interpretationen besser wieder in den Hintergrund und hält es wie die Autorin, die sich nur auf die konkrete Erscheinung einlässt, denn diese ist stark und beredt genug. Els befiehlt Jona, das Jungtier zu töten, um es vom Leiden zu erlösen und seinen Körper nicht dem Adler als Beute zu überlassen. Mit ihrem Dolch, den sie zu ihrem Schutz immer bei sich getragen hat, führt er den Schnitt aus. Aber danach kann er das Weinen nicht mehr zurückhalten.

Els schenkt schliesslich dem aufbrechenden Jona ihren Dolch. Wie sie sich jetzt schützen könne, fragt er die alte Frau. «Manchmal muss man sich nicht schützen, sondern zulassen», antwortet sie knapp. So zieht sich durch diese stille Geschichte eine Entwicklungslinie, die man zu Beginn kaum für möglich gehalten hätte - so starr und fest war da alles in Els' Leben gefügt. Doch das aussergewöhnliche Zusammentreffen hat in diesem Lappland-Sommer ein Tauwetter eingeleitet, und wenn die Begegnung auch nur flüchtiger Natur war, weil der junge Mann weiterziehen wollte, hat sie doch die Daseinsfreude der alten Frau auferweckt.

Am Ende legt man das schmale Buch beiseite und ist auf heimliche Art beglückt: über Els, die ihre Abgeschiedenheit gesprengt hat, vor allem aber über die ebenso zarte wie kraftvolle Sprache dieses Buches.

Christine Fischer: Els. Erzählung. Appenzeller-Verlag, Herisau 2012. 150 S., Fr. 34.-.

 

 Buchbesprechung Kulturmagazin Saiten vom September 2012, Peter Surber

Land der Flechten
Christine Fischers neue Erzählung «Els» spielt in der Einsamkeit
Nordschwedens und handelt von einer eigensinnigen Frau,
die von ihrer Angst eingeholt wird. Das schmale Buch der St.Galler
Autorin liesse sich gut verfilmen.

Hukejaure: Der Name durchtönt das Buch wie ein «joik», der Singsang der lappländischen Samen. Aber der dreiundsiebzigjährigen Els ist es, gleich auf den ersten Seiten der Geschichte, weniger ums Jauchzen als in früheren Jahren. Der vielstündige Aufstieg durch die Tundra hoch zur Hütte auf Hukejaure, die sie seit vielen Jahren als Hüttenwartin betreut, fällt ihr schwerer als sonst. Das Knie, das Herz, der faule Schnee, dessen Reste sie jetzt umgeht statt wie früher durchquert, die Bäche, die es zu durchwaten gilt und vor denen sie jetzt länger als sonst stillsteht. «Hatte sie Angst?»
Auf den ersten zwei, drei Seiten exponiert die St.Galler Autorin Christine Fischer, was sich nachher verdichten und vertiefen, dramatisch überstürzen und am Ende lösen wird: eine Atmosphäre der lauernden Veränderung, noch nicht recht zu fassen, aber unmissverständlich. Das Alter. Els weiss: Es wird wohl ihr letzter Hüttensommer sein auf der Hochebene in der Einsamkeit Lapplands.

Frauen mit Eigensinn
Christine Fischer erfindet seit zwanzig Jahren, seit ihrem ersten Roman «Eisland», immer wieder eigensinnige Frauenfiguren. Und schon im bisher letzten Roman «Nachruf auf eine Insel» (2009) hat sie eine ältere Frau in eine vergleichbar existentielle Situation hineingestellt: Gunda, um die Sechzig, strandet am Ende des Romans auf einer Schäreninsel in der Ostsee und gerät in einen fast kinoreifen Showdown. Auch die neue Erzählung mit dem simplen Titel «Els» kann man sich verfilmt denken, low budget: ein Kammerspiel mit drei Personen, wenige Tage im Frühling, als Schauplatz fast ausschliesslich die Hütte auf Hukejaure, dazu die wildromantische Umgebung mit dem Singstein oben auf dem Hügel und mit dem weiten Blick bis hinüber zum Grat. Dort taucht auch schon bald nach Els’ Ankunft der erste Gast dieses Jahres auf. Anne.
Die Begegnung ist widerborstig. Anne, die junge Deutsche, ist auf der Suche nach einem neuen Leben im nördlichsten Schweden gelandet. Sie lässt sich erst nach einer durchfrorenen Nacht draussen im Zelt allmählich auf Els ein, die ihrerseits den ersten Gast seit je als «notwendiges Übel» empfunden hat und diesmal in der Hütte sowieso schwerer als sonst Tritt fasst. Mit der Zeit entsteht trotzdem eine Nähe zwischen den beiden Frauen. Doch nachdem Anne wieder weg ist, kehrt das Herzrasen zurück. In Panik packt Els ihre Sachen, macht sich auf den Weg hinunter ins Tal, kehrt aber, ohne zu wissen warum, auf halbem Weg wieder um, kämpft sich durch den Schnee, hustend und fiebernd, zurück in die Hütte und ertappt einen Eindringling. Der flieht erst, bedroht sie dann. Die Angst hat jetzt einen Namen: Jona.

Erste und letzte Fragen
Auch er, der junge Mann aus der Kleinstadt im Tal, ist auf der Flucht. Verfolgt nach einer Schlägerei mit dem Vorgesetzten. Was zwischen der kranken Alten und dem verstörten jungen Mann passiert, sei nicht verraten, nur so viel: Die Autorin versteht sich auf kriminalistische Spannung. Und bringt mit feinem Gespür wechselnde Stimmen und Stimmungen, Rhythmusbrüche, Ober- und Untertöne ins Spiel. Was für Els gilt – ihre Sympathie für Flechten («Kryptogamen») –, lässt sich auf Christine Fischers Text übertragen: Auf engem Raum werden klaustrophobisch atemlose Passagen zusammengeflochten mit gemächlicher Naturschilderung und mit altersklugen Gedanken zum Leben und Sterbenmüssen. Das schliesst auch gelegentliches Pathos mit ein, etwa in Els’ eingestreuten Erinnerungen an den Hund Arco, der eine eher zwiespältige Spur in der Erzählung hinterlässt. Oder in kursiv gesetzten, kurzen Dialogen zwischen der alten Frau und ihrem inneren Kind, in denen erste und letzte Fragen angetippt werden.
Am Anfang hat Els die Rentiere vermisst, die sonst in Herden jeden Frühling vorbeikamen. Am Ende sind sie da. Vielleicht bleibt es für Els doch nicht bei diesem letzten Sommer auf Hukejaure.

 

 Buchbesprechung St. Galler Tagblatt vom 20. September 2012, Martin Preisser (in Auszügen)

Melancholie und Aufbruch

Im schwedischen Lappland siedelt die St. Galler Autorin Christine Fischer ihre neue Erzählung "Els" an. Im Zentrum steht eine Hüttenwartin zwischen Suche und Ankommen, die in reflexiven Bögen auf das Leben und die Lebensfragen schaut.

" (...) In "Els" herrscht die Selbstreflexion der Heldin als roter Faden der Atmosphäre vor. Die Dramatik ist eine innere, von der Melancholie übers Alter zum neuen Aufbruch ins Alter. (...) In "Els" sind die Gedanken der Heldin nicht ohne die Natur zu denken, die sie umgibt. Das Starke, das Magisch-Mythische der schwedischen Fjells, die Kraft und Unnahbarkeit der lappländischen Natur - Christine Fischer beschwört sie immer und immer wieder herauf. Bei diesen Landschaftsschilderungen gelingen der St.Galler Autorin die sprachlich stärksten Momente, und sie beweisen, wie sehr sie sich offensichtlich selbst dieser Landschaft verbunden fühlt. (...) Auf Christine Fischers Sprache muss man sich einlassen. Sie ist dicht, fast kondensiert und eindringlich. Auch jedes Detail will eine feste Bedeutung bekommen. Els stellt Fragen, die Fragen eines jeden Lebens sind. Wann ist ein Lebensweg ein freier und selbstbestimmter, wie wandelt sich Festgelegtes in Eigenverantwortetes? (...)"


Affolter Anzeiger vom 12. Oktober 2012, von Gianina Caviezel

„Die Autorin versteht sich darauf, kriminalistische Spannung in der rauen Öde zu erzeugen. Wechselnde Stimmungen, verschiedene Tonarten und Sprachrhythmen sowie eingeschobene, lyrisch anmutende Gedanken aus der Kindheit der Protagonistin geben der Erzählung eine besondere Note und erzeugen atmospährische Dichte. Die Naturschilderungen, insbesondere des nordischen Lichts, sind verwoben mit philosophischen Ausführungen zu den grossen Fragen des Lebens und des Sterbens: Christine Fischers Sprachdichte ist ein literarischer Hochgenuss.“

 

Schritte ins Offene 6/12 – Zeitschrift für Emanzipation Glaube Kulturkritik – von Monika Egli-Schärer

"Christine Fischer zeichnet eine starke, auf fast sperrige Art eigenwillige und dabei doch äusserst empfindsame Frau, die am Rand der Zivilisation lebt, wo die zentralen Fragen des Lebens unausweichlich sind."


dialog 1.2013 - von Barbara Traber

 „Mit „Els“ ist Christine Fischer eine Erzählung gelungen, die in die Tiefe geht und in einer uns fremden, faszinierenden Gegend hoch oben im Norden spielt. Ein warmherziges, berührendes Buch, das unter die Haut geht.“

"Als ich die neue Erzählung „Els“ von Christine Fischer las, dachte ich unwillkürlich an ein Buch, das am andern Ende der Welt spielt (…), Shichiro Fukazawas „Narayama-bushiko. Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“.

Christine Fischer erzählt ihre Geschichte eindringlich und intensiv, in einer dichten, poetischen Sprache und wir tauchen ein in die fremde, nordische Welt mit ihrer wunderbaren Landschaft, in die Stille (…). Wir begleiten Els aber auch zu ihren Wurzeln, in ihr innerstes Denken und Fühlen, denn immer wieder tauchen Fragen auf, die sie als Kind gestellt hat, und die Antworten stehen da, kursiv, wie kurze Gedichte in den Text gestreut, und regen an zum Nachdenken.“

 „Warum müssen wir sterben?

Um Platz zu schaffen für Neues.

Ist das Alter nicht gut genug?

Od doch!

Aber?

Das Neue hat auch ein Recht, alt zu werden.“